Lebendige Medizin – nur ein schönes Wort?

Wenn ich eine lebendige Medizin erhoffe, gibt es dann auch eine Medizin, die tot ist? Ganz so krass würde ich den Gegensatz nicht beschreiben wollen, aber die wissenschaftsbasierte Medizin macht das wirkliche Leben schon grauer, einheitlicher, viereckiger – anders geht es wohl nicht, wenn zum Schluss eine eindeutige Diagnose zu einer empfohlenen Therapie führen soll. Aber die Lebenswelten sind bunter, überraschender, ungerechter als wir wollen – eine lebendige Medizin muss auf neugierige Fragen kreative Antworten finden.

Die wissenschaftsbasierte Medizin, von ihren Kritikern als „Schulmedizin“ verunglimpft, versucht, sich die Welt anzueignen: sie dringt in die kleinsten Strukturen des Körpers ein und entdeckt spannende Zusammenhänge – bei aller Skepsis hat mich zum Beispiel selbst eine oberflächliche Analyse meines Genoms begeistert. Es ist auch wirklich spannend, genetische Ursachen bisher unklarer Krankheiten zu finden. Gleichzeitig lernen wir, dass die Aktivität von Genen durch unser Leben verändert wird – und erworbene Eigenschaften sogar vererbt werden können. Unser eindeutiges Verständnis von Natur gerät ins Wanken: denn Natur ist nicht so darwinistisch wie wir glauben – in der Natur herrscht mehr Gemeinschaft als Wettbewerb, mehr Verschwendung als Effizienz, eben: mehr Lebendigkeit.

Eine lebendige Medizin kümmert sich also nicht um Ursache und Wirkung, vertreibt den Begriff „Kampf“ aus ihrem Vokabular und lässt sich von kreativen Lösungen eines lebendigen Organismus überraschen. Wir Menschen leben nicht einzeln und in Kommunikation mit anderen, sondern wir leben in Situationen: wir leben immer in einer Beziehung zur Welt. Diese Beziehung gilt es zu beschreiben, denn diese Beziehung macht uns krank – oder auch wieder gesund. Der Soziologe Hartmut Rosa bietet dafür einen schönen Begriff an: Resonanz. Fehlende Resonanz macht uns krank – führt zu chronischen Schmerzen, macht uns müde und erschöpft, schwächt unser Immunsystem. Er hält heute Abend in Berlin einen Vortrag in einer psychosomatischen Tagesklinik – ich bin gespannt zu hören, wie die Suche nach gelingenden Resonanzachsen gesund machen kann.


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